Von Maurice Obstfeld
26. Juni 2017
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Männer spielen Schach: Länder mit schnell alternder Bevölkerung brauchen Mittel, die sie bei der Pensionierung ihrer Arbeitnehmer in Anspruch nehmen können (Foto: Caro/Jandke/Nachrichten)
Leistungsbilanzungleichgewichte können gesund sein oder ein Zeichen für makroökonomischen und finanziellen Stress sein — was ihre Bewertung schwierig macht. Im Einklang mit seinem Mandat zur Förderung der internationalen Währungszusammenarbeit führt der IWF jährlich externe Bewertungen für die größten Volkswirtschaften der Welt durch. Ziel ist es, die Weltgemeinschaft auf potenzielle Risiken aufmerksam zu machen, die die Länder gemeinsam angehen müssen.
Länder können wie Haushalte manchmal über ihrem Einkommen und zu anderen Zeiten unter ihrem Einkommen ausgeben. Ein Land, das mehr als sein Einkommen ausgibt, importiert mehr Waren und Dienstleistungen als es exportiert und soll ein Leistungsbilanzdefizit haben. Sie finanziert dieses Defizit, indem sie gegenüber dem Rest der Welt Verbindlichkeiten eingeht oder Kredite aufnimmt.
Ein Land mit dem entgegengesetzten Ungleichgewicht — einem Leistungsbilanzüberschuss — häuft Forderungen gegenüber dem Rest der Welt an. Da jede Kreditaufnahme durch Kreditvergabe ausgeglichen werden muss, ist die Summe aller Leistungsbilanzdefizite der Welt gleich der Summe ihrer Überschüsse — ein Prinzip, das als multilaterale Konsistenz bekannt ist.
Ungleichgewichte können gesund sein…
In vielen Fällen können Leistungsbilanzungleichgewichte durchaus angemessen, ja sogar notwendig sein. Zum Beispiel müssen Länder, deren Bevölkerung schnell altert — wie viele hochentwickelte Volkswirtschaften in Europa und Asien — Mittel anhäufen, die sie bei der Pensionierung ihrer Arbeitnehmer in Anspruch nehmen können. Wenn es nur wenige inländische Investitionsmöglichkeiten gibt, ist es für diese Länder sinnvoll, stattdessen im Ausland zu investieren. Das Ergebnis wird ein Leistungsbilanzüberschuss sein.
In anderen Ländern ist das Gegenteil der Fall. Junge und schnell wachsende Volkswirtschaften mit umfangreichen Investitionsmöglichkeiten profitieren von ausländischen Finanzmitteln und können es sich leisten, Schulden anzuhäufen (durch Leistungsbilanzdefizite), sofern sie diese aus zukünftigen Einnahmen zurückzahlen können.
… oder Signalrisiken
Manchmal können externe Ungleichgewichte jedoch auf makroökonomischen und finanziellen Stress hinweisen — sowohl für einzelne Länder als auch für die Weltwirtschaft, wie frühere Arbeiten von IWF-Kollegen und mir erklärt haben. So wie überschuldete Haushalte den Zugang zu Krediten verlieren können, können Volkswirtschaften, die externe Verbindlichkeiten in zu großem Umfang anhäufen, anfällig für plötzliche Stopps der Kapitalströme werden, die abrupte Ausgabenkürzungen erzwingen – was Finanzkrisen wahrscheinlicher macht.
Gleichzeitig können anhaltende Ungleichgewichte ein Symptom für Verzerrungen in der Binnenwirtschaft sein, die das Wachstum beeinträchtigen können — zum Beispiel unzureichende soziale Sicherheitsnetze, die zu übermäßigen vorsorglichen Einsparungen führen. Die Beseitigung von Verzerrungen und der Abbau von Ungleichgewichten liegen dann im Interesse des Landes selbst. Der Abbau von Ungleichgewichten kann auch der Weltgemeinschaft zugute kommen, da sie weniger anfällig für Ansteckung durch Finanzkrisen oder die Nachteile übermäßiger Überschüsse ist. Zu diesen Nachteilen könnten eine gedrückte globale Nachfrage und eine verstärkte protektionistische Stimmung in Defizitländern gehören.
Aus der Geschichte lernen
Die Geschichte bietet viele Beispiele für Störungen im Zusammenhang mit großen externen Ungleichgewichten. Am berüchtigtsten ist wohl die Weltwirtschaftskrise der späten 1920er und frühen 1930er Jahre. Vorausgegangen war ein Versagen der internationalen Zusammenarbeit bei der Bewältigung anhaltender Ungleichgewichte zwischen Ländern mit hohen Überschüssen (insbesondere den Vereinigten Staaten und Frankreich) und Defiziten (einschließlich Deutschland und dem Vereinigten Königreich). Der daraus resultierende Zusammenbruch der Weltwirtschaftsordnung inspirierte die Gründung des IWF nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinem Mandat, die internationale Währungszusammenarbeit zu fördern und Ländern beim Aufbau und Erhalt starker Volkswirtschaften zu helfen.
In jüngerer Zeit gingen der globalen Finanzkrise Rekordungleichgewichte und eine gleichzeitige, aber vernachlässigte Anhäufung von Schwachstellen voraus. Die Ungleichgewichte lösten sich nur in einer einmaligen Rezession auf, die weltweit wirtschaftliche Not verursachte.
Bewertung externer Ungleichgewichte
Was kann der IWF angesichts seines Mandats tun, um das Risiko disruptiver Leistungsbilanzungleichgewichte zu verringern? Ausgehend von einer Lehre aus der globalen Finanzkrise führen wir seit 2012 systematische, jährliche Bewertungen für die 28 größten Volkswirtschaften der Welt und für den Euroraum durch. Zusammen machen diese Volkswirtschaften mehr als 85 Prozent des weltweiten BIP aus.
Ziel ist es, risikoreiche Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und den Ländern Politikberatung zu bieten, wie sie potenziell störende Ungleichgewichte angehen können. Die Ergebnisse werden sowohl in den jährlichen Konsultationsberichten zu Artikel IV für jedes Mitgliedsland als auch in einem einmal jährlich veröffentlichten umfassenden Bericht über den externen Sektor veröffentlicht. Die Übung ist multilateraler Natur — daher konzentriert sie sich auf die Transaktionen eines Landes mit dem gesamten Rest der Welt, nicht auf die bilateralen Salden der Länder. Dieser Fokus ist entscheidend, um die makroökonomischen Faktoren aufzudecken, die zu globalen Ungleichgewichten führen.
Da einige Ungleichgewichte gerechtfertigt sind, besteht die größte Herausforderung darin, zu bestimmen, wie viel von einem externen Überschuss (oder Defizit) angemessen ist — und wie viel zu viel oder „übermäßig“ ist.“ Da die Treiber der Leistungsbilanzsalden so komplex sind, wird kein einfacher Ansatz zur Ermittlung übermäßiger Ungleichgewichte wahrscheinlich für jedes Land die richtige Antwort geben. Aus diesem Grund hat der IWF eine detaillierte Bewertungsmethodik entwickelt, die zwar nicht perfekt ist, aus unserer Sicht jedoch eine gute Balance zwischen Wirtschaftstheorie, statistischer Schätzung und länderspezifischem Wissen bei der Bewertung potenzieller Risiken bietet.
Das A und O
Konzeptionell vergleichen unsere externen Bewertungen den tatsächlichen Leistungsbilanzsaldo einer Volkswirtschaft mit einer Leistungsbilanznorm. Wir folgen vier Schritten:
Schritt 1: Projiziertes Girokonto. Ausgangspunkt ist das External Balance Assessment (EBA) Modell. Das Modell schätzt den „durchschnittlichen“ Leistungsbilanzsaldo einer Volkswirtschaft mit bestimmten Merkmalen – etwa der demografischen Struktur oder dem Einkommensniveau — und der Wirtschaftspolitik — etwa dem finanzpolitischen Kurs. Als ergänzende Information und Kontrollprüfung führen wir auch ähnliche Modelle für den realen effektiven Wechselkurs durch, um eine Benchmark für Bewertungen von Unter- oder Überbewertung abzuleiten.
Schritt 2: EBA-Norm. „Durchschnittlich“ bedeutet nicht unbedingt „optimal“ oder „gewünscht“.“ Zum Beispiel, wenn ein Land eine unzureichende Fiskalpolitik betreibt — entweder zu niedrig oder zu eng — berechnen wir den Leistungsbilanzsaldo, der vorherrschen würde, wenn die Fiskalpolitik angemessen wäre. Wenn wir im EBA-Modell die tatsächlichen Policen durch die gewünschten Policen ersetzen, erhalten wir eine Leistungsbilanznorm.
Schritt 3: Mitarbeiter-bewertete Norm. Kein Modell ist perfekt. Daher ist es nicht unüblich, die Modellschätzungen für die länderspezifischen Faktoren anzupassen, die auf Erkenntnissen basieren, die unsere Länderteams im Konsultationsprozess gewinnen. Nehmen wir das Beispiel einer jungen, sich schnell entwickelnden Wirtschaft. Das Modell kann gegebenenfalls auf ein großes Leistungsbilanzdefizit hinweisen – größer als die Wirtschaft normalerweise finanzieren kann. In diesem Fall passen wir die geschätzte Leistungsbilanznorm nach oben an (dh in Richtung eines niedrigeren Defizits). Wir bemühen uns sehr, dass solche Anpassungen so genau und unparteiisch wie möglich sind und dass sie multilateral konsistent sind – was bedeutet, dass sie sich global summieren.
Schritt 4: Leistungsbilanzlücke. Die Differenz zwischen dem tatsächlichen Leistungsbilanzsaldo und der vom Personal ermittelten Norm ist die „Leistungsbilanzlücke“ – die Grundlage für unsere Einschätzungen. Konzeptionell erfasst die Lücke alles, was das außenwirtschaftliche Gleichgewicht einer Volkswirtschaft von ihrem angemessenen Niveau abbringt — von unzureichender makroökonomischer Politik bis hin zu Verzerrungen im Inland. Diese Lücken werden dann in qualitative Bewertungen übersetzt — deren große Kategorien in Abbildung 2 skizziert sind -, um eine Diskussion über die Maßnahmen zu führen, die am besten geeignet sind, sie zu schließen.
Entwicklung externer Bewertungen
Es ist wichtig zu bedenken, dass sich sowohl die Normen als auch die Leistungsbilanzsalden entwickeln. Externe Bewertungen sind eine Momentaufnahme zu einem bestimmten Zeitpunkt, kein grundlegendes Urteil über die Unveränderlichkeit der Wirtschaft.
Des Weiteren, und trotz unserer Bemühungen, Raum für einige Fehler bleibt. Deshalb legen wir Vertrauensbänder um unsere Bewertungen. Aber selbst dann ist es möglich, relevante Faktoren zu übersehen. Wie immer ist daher ein gewisses Maß an Demut erforderlich: Während wir externe Bewertungen nach bestem Wissen durchführen, bedeutet dies nicht, dass sie perfekt sind — daher arbeiten wir kontinuierlich daran, unser EBA-Modell und unsere Analyse zu aktualisieren und zu verfeinern.
Ein globales öffentliches Gut
Letztendlich sind die Einschätzungen des IWF ein analytisches Instrument — nicht mehr, aber auch nicht weniger —, um die schwierige und oft strittige Frage zu bestimmen, wann externe Ungleichgewichte angemessen sind oder wann sie Risiken signalisieren. Als solche bieten sie ein wichtiges öffentliches Gut, indem sie die Weltgemeinschaft auf potenzielle Zahlungsbilanzprobleme aufmerksam machen, die die Länder gemeinsam angehen müssen. Um wirksam zu sein, müssen unsere Analysen und Empfehlungen bei den politischen Entscheidungsträgern offene Ohren und Köpfe sowie den Willen zum Handeln finden.
Die Bekämpfung übermäßiger globaler Ungleichgewichte ist eine gemeinsame Verantwortung. Kein einziges Land kann dies alleine effektiv tun. Alle Länder müssen kooperativ handeln, damit alle profitieren. Andernfalls überlassen wir uns den Arten von Krisen, die die globale Stabilität in der Vergangenheit entgleist haben.